Kategorie: Erste Sätze

Im Labyrinth des Lebens

„Bevor Mazer sich als Mazer neu erfinden sollte, war er Samson Mazer, und davor hieß er Samson Masur.“

Gabrielle Zevin: „Morgen, morgen und wieder morgen“. Eichborn, 2023.
(aus dem Amerikanischen von Sonia Bonné)

Es geht um das Erfinden in diesem fantasievollen Roman und darum, sich neu zu erfinden. Um das Erfinden von Computerspielewelten und der bestmöglichen Version seiner selbst, am bestmöglichen Platz in der realen Welt, für die es keinen Cheat-Modus gibt und auch keine Extra-Leben. All das ist schon im ersten Satz angelegt, der mit den Zeilen weitergeht: „Zwei geänderte Buchstaben würden ausreichen, um aus einem netten, vermeintlich jüdischen Jungen einen professionellen Weltenbauer zu machen. In der Highscore-Tabelle des Donkey-Kong-Automaten seines Großvaters tauchte er als S.A.M. auf, aber meistens war er einfach nur Sam.“

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In eigener Sache: neuer Roman erschienen

Da ist er, der neue Roman des Initiators von lieblingssaetze.de. „Eine göttliche Jugend“ (Volk Verlag) ist eine tragikomische Ausreißergeschichte über das Aufwachsen auf dem Land und das erste große Abenteuer in der Welt. Im Zentrum: Eddie, ein Außenseiter vor dem Herrn. Es sind die frühen Neunziger, als es dem Siebzehnjährigen reicht. Er haut ab. Mit dem Mofa raus aus dem konservativen Bayern, ab nach Amerika, fest entschlossen, dort sein großes Idol zu treffen: Popstar Madonna, die Frau, die ihn mit ihrer Musik und ihren liberalen Ansichten durch die Pubertät gelotst hat. Doch von zuhause reisen Eddie dramatische Nachrichten hinterher. Er muss eine folgenschwere Entscheidung treffen, und am Ende kann ihm nur noch einer helfen: Gott persönlich.

„Mit feinem Humor und poetischer Sprache erzählt Bernhard Blöchl die Geschichte von Eddie und dem Sommer, in dem er beinahe erwachsen wurde. Eine nostalgische Heldenreise von einem bayerischen Kaff bis nach Amerika – und von Madonna zu Gott.“

Benedict Wells

Falls es Sie wirklich interessiert, wie mein Leben verlaufen ist, ob es zur Begegnung mit Gott kam und wie er so war, sollte ich die Geschichte vielleicht mit meiner Köpfung beginnen.

Erster Satz aus „Eine göttliche Jugend“

Die Coming-of-Age-Geschichte über eine nicht immer göttliche Jugend soll anknüpfen an die bisherigen Romane von Bernhard Blöchl: an die Schottland-Roadnovel mit dem umweglangen Titel „Im Regen erwartet niemand, dass dir die Sonne aus dem Hintern scheint“ (2017, Piper) und an die Komödie „Für immer Juli“ (2013, Maro).

Okapi sehen und sterben

„Als Selma sagte, sie habe in der Nacht von einem Okapi geträumt, waren wir sicher, dass einer von uns sterben musste, und zwar innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden.“

Mariana Leky: „Was man von hier aus sehen kann“. Dumont, 2017.

Es gibt mindestens viereinhalb Gründe, warum dieser erste Satz bestens funktioniert. Mariana Leky lässt gleich zu Beginn ihres zauberhaften Romans Fragezeichen in den Köpfen ihrer Lesenden aufploppen, und Fragezeichen sehnen sich bekanntlich nach Antworten.

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Moll für Milliarden

„Leicht war es nicht, sechs Milliarden gebrochene Herzen auf einmal zu flicken, doch ich schaffte es.“

Joey Goebel: „Freaks“. Diogenes, 2007
(aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog)

Joey Goebel liebt das Spiel mit ersten Sätzen. In seinem Kurzroman über fünf Außenseiter, die sich in einem amerikanischen Kaff zur „Power-Pop-New-Wave-Heavy-Metal-Punk-Rock-Band“ vereinen, um gemeinsam grandios zu scheitern, treibt er das Spiel auf die Spitze. Denn der Köder, den der US-Meister der abseitgen Tragikomödie hier auslegt, ist so fulminant wie trickreich.

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Leidfaden zum Glück

„Tut mir leid, dass Du es ausgerechnet von mir erfährst, aber Du wirst nie glücklich sein.“

Joey Goebel: „Vincent“. Diogenes, 2005

Joey Goebel eröffnet seinen Debütroman mit einem Brief, den der Ich-Erzähler dem titelgebenden Jungen schrieb, als er sieben war. Einem Schüler diesen Satz zu widmen, ist heftig. Einen Roman mit diesem Satz zu beginnen, ist herrlich. Und genau aus diesem Spannungsfeld zwischen heftig und herrlich, zwischen Unglück und Glück, zieht der Schriftsteller die Kraft für seine Romane.

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Das pralle Leben im ersten Satz

„In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ 

Benedict Wells: „Hard Land“. Diogenes, 2021

Erste Sätze sind wie Dates. Sie können sich als Hochstapler entpuppen, als Langweiler oder Reinfälle, im besten Fall sind sie die Erfüllung schlechthin. Benedict Wells lässt seinen neuen Roman mit einem Satz beginnen, in dem die Essenz der Geschichte steckt, Plot und Spoiler zugleich. Denn darum geht’s in „Hard Land“, um den schönsten und schlimmsten Sommer, das pralle Leben im ersten Satz.

Wells liebt erste Sätze. Das verbindet ihn mit Kirstie, einer der Figuren seiner zauberhaften Coming-of-Age-Geschichte über einen jungen Außenseiter in Missouri 1985. Denn Kirstie, in die sich ebenjener Sam Hals über Kopf verknallt, sammelt Romananfänge, immer wieder tauscht sie sich mit Sam darüber aus. Einer beeindruckt den Ich-Erzähler ganz besonders, er stammt aus Charles Simmons‘ Roman „Salzwasser“ und lautet: „Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank.“ Das wiederum bringt den Leser zu der Erkenntnis: Der erste Satz von „Hard Land“ ist ein Remix, und zwar ein dramaturgisch kluger. Da nämlich Sam Simmons‘ Zeile verehrt und nun seine Erinnerungen, die „Hard Land“ formal sind, mit einer Variation davon beginnt, steckt in Wells‘ Auftakt mehr als die Essenz der Geschichte: eine Extraportion Raffinesse.

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Multiple Höhepunkte

„Wie langweilig, denkt Edith in ihrer Hochzeitsnacht. So was stellt man sich doch ganz anders vor.“

Yvonne Hergane: „Die Chamäleondamen“. MaroVerlag, 2020

Erste Sätze sind wie Hochzeitsnächte. Die Erwartungen sind riesig, oft werden diese nicht erfüllt, aufgeben kommt nicht in Frage, zumindest nicht sofort, da will man gerne noch die darauffolgenden probieren, also Nächte und Sätze. Manchmal aber sind sie das Gegenteil von langweilig, da genießt man jede Silbe. Da wünscht man sich Kinder, mehr davon, im Gesicht ein entrücktes Grinsen. Von einem Höhepunkt zum nächsten, literarisch selbstverständlich, bringt einen Yvonne Hergane in ihrem Debütroman „Die Chamäleondamen“.

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Wortkompositionen wie Arthousekopfkino

„Altvater Schuppenwurz wacht aus dem Stand weitflächig auf, streift pechdunkle Traumreste ab, die glitzern vor feuchten Kehrichtklumpen.“

Max Porter: „Lanny“. Kein & Aber, 2019

Altvater Schuppenwurz? Who the fuck is Altvater Schuppenwurz? Das Staunen im ersten Satz geht weiter. Weitflächiges Erwachen, pechdunkle Traumreste, Wortkompositionen wie Arthousekopfkino. Den einen mag der Formulierungsrausch verstören, den anderen betören wie magische Pilzpartys. Wer da kieselsteinklimpernd lockt, ihm in seine Geschichte über einen sagenhaften Gestaltenwandler, dessen Dorf und seine geschwätzigen Bewohner zu folgen, hinein in eine traumwandlerische Familiengeschichte zwischen Mythen und Moderne, ist Max Porter. Der Engländer, Jahrgang 1981, ist ein Prosapoet mit tief verwurzeltem Naturtalent, einer, der dem Gedicht immer ein paar Buchstaben näher ist als der Prosa.

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Ohnemusenküsse

„Wir saßen draußen auf den Feldern in der Sonne wie zwei Spatzen oben auf einer Telefonleitung, durch die nur angenehme Gespräche laufen.“

Günter Ohnemus: „Oh, But California“ in „Die letzten großen Ferien“. Maro, 1993

Die Spatzen sollten es längst von den Telefonleitungen pfeifen: Bei der hübschen Indiebookchallenge geht es darum, in jeder Woche des Jahres ein Buch aus einem unabhängigen Verlag zu lesen. Als ich gefragt wurde, die Patenschaft für eine Woche zu übernehmen, zögerte ich keine Sekunde, schlichtweg, weil ich ein großes Herz für die Kleinen habe. Mein Motto für die Woche von 4. August 2018 an lautet: „Lies ein Buch mit einer Illustration auf dem Umschlag.“ Et voilà, meine Empfehlung ist die Kurzgeschichtensammlung „Die letzten großen Ferien“ (Maro, 1993) von Günter Ohnemus.

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„À la minute, motherfucker“

„Im südlichen Niedersachsen liegt ein Wald, der Deister, darin stand ein Haus aus Sandstein, in dem früher der Förster gewohnt hatte und das durch eine Reihe von Zufällen und den Kredit einer Bank in den Besitz eines Ehepaares kam, das dort einzog, damit die Frau in Ruhe sterben konnte.“

Takis Würger: Der Club. Kein & Aber, 2017.

Spoiler-Alarm (1): Die Frau aus dem ersten Satz stirbt. Bald. Ob in Ruhe, das bleibt unklar, darf aber bezweifelt werden. Für Ruhe ist in Takis Würgers Debütroman kein Platz. Der Spiegel-Redakteur, Jahrgang 1985, erzählt dicht und schnell, dennoch mit Tiefe und Freude an Details und Sprachvariationen. Im Zentrum seiner multiperspektivischen Coming-of-Age’n’Crime-Story steht Hans. Der mutterlos (siehe erster Satz, siehe Frau) und ängstlich aufwachsende Außenseiter wird früh mit einer geheimnisvollen Mission konfrontiert: Der junge Mann, ein talentierter Boxer, soll spezielle Vorfälle in einem College-Club in Cambridge aufdecken. Seine Tante schleust ihn in die englischen Elite-Kreise ein, eine junge Studentin weist ihm den Weg. Der Weg ist steinig und dekadent, blutverschmiert und champagnergetränkt. Die Themen, darunter Rache und Machtgefälle, sind erschreckend aktuell, sie machen den Roman zum Buch der Stunde. Und wie der erste Satz schon erahnen lässt: Hier geht es, abgesehen von ein paar feinen Ablenkungsmanövern, gleich zur Sache. „À la minute, motherfucker“, wie Hans‘ Mitstudent Josh sagt. Spoiler-Alarm (2): Die Frau aus dem ersten Satz ist nicht die einzige Person, die stirbt. In Ruhe sowieso nicht.