Okapi sehen und sterben

„Als Selma sagte, sie habe in der Nacht von einem Okapi geträumt, waren wir sicher, dass einer von uns sterben musste, und zwar innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden.“

Mariana Leky: „Was man von hier aus sehen kann“. Dumont, 2017.

Es gibt mindestens viereinhalb Gründe, warum dieser erste Satz bestens funktioniert. Mariana Leky lässt gleich zu Beginn ihres zauberhaften Romans Fragezeichen in den Köpfen ihrer Lesenden aufploppen, und Fragezeichen sehnen sich bekanntlich nach Antworten.

Zunächst einmal: Wer ist Selma und was zur Hölle ist ein Okapi? Gut, letzteres kann man sich zusammenreimen, wenn man den mit dünnem Strich gestalteten Umschlag betrachtet. Aber so richtig weiß man es eben doch nicht und freut sich auf die Aufklärung, die – Spoiler-Alarm! – auf Seite 14 erfolgen wird. Das dritte Fragezeichen respektive der dritte Grund, warum der erste Satz so anziehend ist wie die ganze Geschichte um die sonderbaren Westerwälder Dorfbewohner, ist fesselnder Natur, nämlich die drängende Frage, warum denn jemand sterben muss, wenn Selma des nachts an ein unfertiges Zebra denkt. Dazu kommt noch der Spannungsdoppler, dass jene Tragödie angeblich schon so bald eintreten werde.

Das alles führt dazu, dass man selbstverständlich weiterliest. Um kopfüber eintauchen zu können in den Gefühlskosmos aus Freundschaft und Liebe, Geheimnissen und Ängsten, Leben und Tod. Und weil der Roman, erzählt aus der ungewöhnlichen, weil allwissenden Ich-Perspektive der jungen Luise, so hinreißend fabuliert und formuliert ist, was sich schon im ersten Satz widerspiegelt, giert man nach mehr. Möglichst in den nächsten vierundzwanzig Stunden.