Multiple Höhepunkte

„Wie langweilig, denkt Edith in ihrer Hochzeitsnacht. So was stellt man sich doch ganz anders vor.“

Yvonne Hergane: „Die Chamäleondamen“. MaroVerlag, 2020

Erste Sätze sind wie Hochzeitsnächte. Die Erwartungen sind riesig, oft werden diese nicht erfüllt, aufgeben kommt nicht in Frage, zumindest nicht sofort, da will man gerne noch die darauffolgenden probieren, also Nächte und Sätze. Manchmal aber sind sie das Gegenteil von langweilig, da genießt man jede Silbe. Da wünscht man sich Kinder, mehr davon, im Gesicht ein entrücktes Grinsen. Von einem Höhepunkt zum nächsten, literarisch selbstverständlich, bringt einen Yvonne Hergane in ihrem Debütroman „Die Chamäleondamen“.

Ihre autobiografisch gefärbte rumänisch-deutsche Familiengeschichte über vier Frauen aus vier Generationen ist dicht erzählt, statt Geschwafel gibt’s Schlüsselmomente wie Ediths Hochzeitsnacht. Hergane, Jahrgang 1968, die bis dato als Übersetzerin und Kinderbuchautorin aufgefallen war, erweist sich als Meisterin der schönen Sätze, der ersten Sätze im Besonderen. Die Autorin liebt Wortschöpfungen (von bloßfußeln über stehlöffeln bis haderlumpig), ebenso den sprachlichen Mischmasch („Banater Berglanddeutschenpansch mit österreichischem Mehlspeisboden und rumänischen Kirschen obendrauf“). Hinreißend ist auch der Schlüsselsatz, nach dessen Prinzip der ganze Roman, bestehend aus 48 Miniaturen auf 238 Seiten, funktioniert:

Erinnerungen sind wie Taschentücher in der Schachtel, kaum hat man eine am herauslugenden Zipfel gepackt und ans Licht gehoben, zieht sie schon die nächste hinter sich her, und die nächste, die nächste, ad infinitum oder eben bis die Schachtel, die sich Leben nennt, leer ist.

So vernehme ich leise die Frage: Willst du mein Lieblingssatz des Monats werden? Ja, ich will!

Hier geht’s zur Buchbesprechung, die ich für die SZ geschrieben habe.