Kategorie: Erste Sätze
Mein Freund, der Braum
„Es war der zweite Frühlingstag des Jahres, der 4. März 2013, als Stephan Braum einen jungen Mann traf, der sein Leben – wenn das, was er bis dahin würgend dahingestottert hatte, Leben genannt werden kann – auf den Kopf stellte.“
Joachim Lottmann: Endlich Kokain. KiWi, 2014.
Auch ein Buchrücken kann entzücken. Vor allem einer, auf dem groß und fett wie der Protagonist der Geschichte zwischen filigraner Handschriftimitation die Worte protzen: „ES KOMMEN DROGEN, SEX UND ABENTEUER.“ Aber ja, das macht neugierig. Ein bisschen schade ist es aber auch, dass durch die überaus präzise Vorausdeutung der erste Satz des Romans – ein geschickt gebautes Ködernest – an Zauberkraft verliert, weil die Phantasie gerade mit Vögeln auf Koks davonfliegt. Gleichwohl darf man sich nach dieser Eröffnung auf eine ungeheuerliche Wandlung eines Mannes namens Braum gefasst machen. Eines ausgebrannten Medienkolosses und Vollzeitspießers, dessen Kokaindiät ihm neues Leben schenkt – mit Anerkennung, Frauen und allem Pipapo. Sogar mit Glück. Joachim Lottmanns zynische Satire ist eine rauschhafte Abrechnung mit völlig überdrehten Künstler-, Politiker-, Vip- und Medienkreisen in Wien, Berlin und überall. Das Beste aber ist: Den Kater danach braucht man nicht zu fürchten. Der fällt aus, das steht fest wie die Anziehungskraft des Buchrückens.
Die größere Kunst der Welt
„Es fing an wie üblich, auf der Damentoilette des Lassimo-Hotels.“
Jennifer Egan: Der größere Teil der Welt. Fischer Taschenbuch, 2013.
Erste Sätze mit Toilette: Griff ins Klo oder Hochglanzpolitur? Sofern sie raffiniert gestrickt sind wie Jennifer Egans Einstieg oder der von Nick Hornby in Juliet, Naked, funktionieren sie bestens. Als Schlüsselloch für den Voyeur in uns, als Lockstoff für Neugierige, die wissen wollen, was in besagtem WC so vor sich geht, und warum „wie üblich“. Der Leser folgt, in diesem Fall garantiert, und ehe er sich’s versieht, ist er bereits hineingesogen in den Strudel einer Geschichte, die von Mikro- zu Makrokosmos, von San Francisco nach Südafrika, vor und zurück durch die vergangenen Jahrzehnte springt, dass einem ganz schwindelig wird. Das liegt an der großen Erzählkunst der New Yorker Autorin und Journalistin, Jahrgang 1962, die für ihr Meisterwerk (im Original: „A Visit from the Goon Squad“) 2011 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Es geht um den Wandel der Musikbranche, die Facetten der Liebe, die Beständigkeit der Freundschaft, um Ideale, Träume und Verrat. Vor allem aber ist der Gesellschaftsroman ein Buch über die Zeit. Über das Verrinnen der Zeit und die Furchen, die sie dabei gräbt. Weiterlesen
Schwärmen übers Schwätzen
„Da wurde einer umgebracht, was an sich schon blöd genug ist.“
Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten. KiWi, 2014.
Verena Roßbacher hat ihr zweites Buch veröffentlicht, und erneut mischt die junge Österreicherin die Spickzettel mit den Regeln des Romanschreibens so wild durcheinander, dass die darauf notierten Gedankenstützen ins Taumeln geraten, sich aufeinander übergeben, infolgedessen auf den Papieren nichts mehr zu entziffern ist, weshalb sich die Autorin aufs Improvisieren verlassen muss. Das Ergebnis ist ein experimentelles Wortfest auf 631 Seiten, zerstückelt in 139 (!) Kapitel, an dem auch die Schriftstellerin und ihr Lektor Olaf teilnehmen, indem sie sich regelmäßig in die Handlung hineinschieben und über die Begehrlichkeiten des „lieben Lesers“ streiten. Weiterlesen
Zufallstudie
„Oha!“
Heinrich Steinfest: Der Allesforscher. Piper, 2014.
Heinrich Steinfest hat den Kürzesten. Den kürzesten ersten Satz, der im Museum der schönen Sätze präsentiert wird. Bis dato. Nun könnte man nörgeln, mit so einem „Oha!“ ließe sich jeder x-beliebige Roman eröffnen, reißerisch um Aufmerksamkeit buhlend und geradezu comicartig banal. Die Kunst des ersten Satzes, wie sie das Museum hegt, besteht jedoch darin, dass sich in ihm die ganze Geschichte spiegelt, und müsste man Heinrich Steinfests „Allesforscher“ in einem Wort zusammenfassen, wäre „Oha!“ nicht der schlechteste Versuch. Weiterlesen
Gretchenfrage
„Als Gretchen Morgenthau aufwachte, fiel ihr der Himmel auf den Kopf und es fehlte nicht viel, da wäre Gott gleich mitgefallen.“
Einzlkind: Gretchen. Verlag Klaus Bittermann, 2013.
Ein Killersatz. Schon wieder. Wie schon bei Harold, dem Debüt der Pseudonym-Edelfeder mit dem Rechtschreibfehler im Namen, liest man weiter. Todsicher. Es gibt ohnehin viele Parallelen zwischen den beiden Romanperlen. Erneut lässt Einzlkind einen alten (die fiktive und überaus exquisite Theaterlegende Gretchen Morgenthau) auf einen jungen Protagonisten (den liebeshungrigen und einfach gestrickten Insel-Teenager Kyell) treffen, die sich gegenseitig inspirieren. Wieder ist die Thementüte des Schriftstellers gefüllt mit den Sujets England, Reisen, Streben und Sterben. Das Beste aber ist: Wieder lässt er den sprachverliebten Leser staunen über geniale Sätze und blitzgescheite Gedanken.
Der Autor, über den man noch immer nicht viel weiß (außer, dass er lebt und sein Vorname vielleicht betamax ist), erzählt auch seine zweite schrullige Lebenskomödie mit so viel Sprachgefühl und Situationskomik, dass es eine wahre Freude ist. Ein Killersatz jagt den anderen. Aber das hatten wir bereits.
Die Gretchenfrage bleibt: Wer ist dieses Genie?
Selbstmordsgaudi
„Harold glaubte, nach Mutters Tod erbe er die Villa und erhänge sich zweimal die Woche in der Vorhalle.“
Einzlkind: Harold. Heyne, 2011.
Ein Killersatz. Hier liest man weiter. Todsicher. Natürlich möchte man wissen, wie das denn bitte gehen soll, sich zweimal pro Woche in der Vorhalle zu erhängen? Und warum überhaupt? Taucht man erst einmal ein in die herrlich skurrile Welt des 49-jährigen Londoners namens Harold, begreift man, dass der Selbstmord zwar eine Art Hobby des Protagonisten darstellt, eines jedoch, das er nicht perfekt beherrscht. Wie so vieles im Leben des gekündigten Wurstfachverkäufers. Und dann kommt Melvin. Ein Elfjähriger, der sich selbst als Savant bezeichnet („Falls Sie nachschlagen müssen: ein Genie“). Der hyperaktive Schlaubischlumpf reißt den passiven Harold mit in ein Abenteuer, das durch England und Irland führt, denn Melvin sucht seinen Vater. Also verschiebt Harold seine Pläne in der Vorhalle und begleitet ihn. Wie sollte er sich auch widersetzen können?
Der Autor, über den man nicht viel weiß (außer, dass er sich vor ein paar Jahren eine neue Kaffeemaschine gekauft hat), erzählt seine schrullige Buddy-Komödie mit so viel Sprachfreude und Situationskomik, dass es eine wahre Freude ist. Er nennt sich Einzlkind und soll in England leben. Oder in Deutschland. Fest steht, er reiht einen Killersatz an den anderen.
Ruck and Roll
„Seit er einmal, fast ein Jahr lang, mit der Vorstellung gelebt hatte, die Sprache verloren zu haben, war für den Schriftsteller ein jeder Satz, den er aufschrieb und bei dem er noch dazu den Ruck der möglichen Fortsetzung spürte, ein Ereignis geworden.“
Peter Handke: Nachmittag eines Schriftstellers. Suhrkamp, 1989.
Ein Ruck muss durch die Geschichte gehen. Jeder Schreibende kennt diese kaum stillbare Sehnsucht nach dem Schub nach vorn, dem nächsten Wort, der nächsten Zeile, und so ein Ruck, wie Handke ihn benennt, ist wie ein aufgemotzter Formel-1-Motor. Kein Hau-Ruck, das ist was für Stümper und Freunde der literarischen Brechstange, sondern ein sanfter, magischer Richtungsruck, der die Erzählung wie von selbst ins Rollen bringt. Ruck and Roll. Den „Ruck der möglichen Fortsetzung“ zu thematisieren, noch dazu im ersten Satz, ist ein Ereignis für sich. Ein Ereignis, das den Österreicher, Jahrgang 1942, direkt ins Museum der schönen Sätze katapultiert. Ruck zuck.
Herrlicher Herrndorf
„Als erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee.“
Wolfgang Herrndorf: Tschick (2010). Rowohlt, 2012.
Als erstes ist da dieser Satz. Wabert dir ins Hirn wie ein Duftgemisch, dem sich keiner entziehen kann. Natürlich will man wissen, wie es zu dieser kuriosen Kombination der Flüssigkeiten kam, wessen Körpersaft zu riechen beginnt, und wer da in diesem saloppen Ton drauflosplappert, als wäre seine Geschichte die interessanteste der Welt.
Nun macht ja bekanntlich der Ton den Roman. Eine einzigartige und allzeit authentische Stimme zu finden, ist eine der schwierigsten Hürden, die ein Schriftsteller überwinden muss, ehe er die Helden seiner Fantasie auf Reisen schickt. So gesehen ist Wolfgang Herrndorf ein Meister des Tons. Ein Tonmeister. Die Art und Weise, wie der Wahlberliner die Abenteuer von „Tschick“ und seinem Freund Maik Klingenberg erzählt, ist einer der Hauptgründe für die sagenhafte Beliebtheit dieser großen Fahrt ins Leben. Der Bestseller, der es verdient hat einer zu sein, ist ein zeitloses Buch über das Erwachsenwerden, über die deutsche Provinz, über das Ausloten von Traum und Wirklichkeit. Reif ersonnen, frisch erzählt. Herrndorf, Jahrgang 1965, biedert sich nicht an, er wird zum besten Kumpel von der Hassliebe namens Jugend. Schonungslos wie Blut, aufbauend wie Kaffee.
Der alte Bär und das Mehr
„Er war ein alter Mann, der allein in einem kleinen Boot im Golfstrom fischte, und er war jetzt vierundachtzig Tage hintereinander hinausgefahren, ohne einen Fisch zu fangen.“
Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer (1952). Rowohlt, 2011.
Hemingway. Ein Wort wie Hemmungen. Dabei war Ernest, Sohn eines Landarztes und einer Opernsängerin aus Illinois, alles andere als eine Memme. Im Gegenteil. Wie der alte Mann und das Meer war der amerikanische Schriftsteller einer dieser Helden, die gerne als letzte Helden bezeichnet werden, weil man solche Männer heutzutage nicht mehr findet (sagen zumindest die Frauen, die sich den archaischen Typus gerne zurückträumen, auch wenn er in ihr emanzipiertes Leben passt wie Hemingway ins Männer-Spa). Themen wie Tapferkeit und Mühsal, Kampf und Leiden, ziehen sich durch sein Werk wie die Angelschnur durch das fischreiche Gewässer. Ernest Hemingway war ein Mann mit klarem Rollenverständnis. Er war Kriegsreporter und freiwillig an der Front. Er wurde schwer verwundet und hat sich schwer verliebt. Sein Gesicht hatte Falten, seine Geschichten Tiefe, bevor er sich 1961, an einer bipolaren Störung erkrankt, erschoss. Wie schon sein Vater.
Der Einstieg in seine Novelle, die ihm Mitte der fünfziger Jahre Pulitzer- und Literaturnobelpreis einbrachte, ist so deprimierend wie grandios. Alt, allein, klein, 84 Tage, ohne Fisch – kann es etwas Traurigeres geben? Trotzdem Vielleicht gerade deshalb ist die Erzählung, die in Hemingways Wahlheimat Kuba über die Bühne geht, so außergewöhnlich. Das Ein-Personen-Kammerspiel auf hoher See brennt sich als zeitloses Gleichnis ins Langzeitgedächtnis. Als Gleichnis für ein Dasein, dessen Sinnhaftigkeit nicht durch äußere Siege bestätigt werden muss.
Ewig fein
„Als er in ihr Leben trat, verspürte Judith einen stechenden Schmerz, der gleich wieder nachließ.“
Daniel Glattauer: Ewig Dein (2012). Deuticke, 2012.
Keine Sorge Pech gehabt, hier geht es nicht um fesselnde BDSM-Prosa. Auch bissige Vampirromanzen oder Piercing-Krimis könnten so beginnen, gehören jedoch nicht zu den Spezialgebieten des Autors und Journalisten aus Wien. Wer da einen Einstieg findet, dessen Doppeldeutigkeit sich erst im Lauf der Geschichte entfaltet wie ein Geschwür mit schlechten Heilungschancen, ist Daniel Glattauer. „Ewig Dein“ ist ein schaurig-schönes Psychodrama mit Thriller-Elementen, das keine Peitsche braucht und auch kein Blut, um unter die Haut zu gehen. Denn während die eingangs beschriebene Pein am Fuß, ausgelöst durch das Gedränge in der Käseabteilung, gleich wieder nachlässt, beginnt der Seelenschmerz erst sich aufzubauen, den der Fersentreter in der Raulederjacke der Protagonistin zufügt. Ein scheinbar einfacher szenischer Einstieg, in dem jedoch der ganze Roman lauert. Chapeau!
Dieser Glattauer ist schon ein feiner Beobachter. Wie er zwischenmenschliche Beziehungen sich entwickeln lässt, nachvollziehbar, detailreich, wortgewaltig, ist eine Schau. Darin ist der studierte Pädagoge ein Meister. Damit gelang ihm der Durchbruch. Auch seine in aller Welt gelesenen E-Mail-Romane Gut gegen Nordwind (2006) und Alle sieben Wellen (2009) fußen auf der Stärke der akribisch beschriebenen Anziehungskraft.
PS: Im Buch ist leider nicht notiert, ob Judith nach dem Fersentritt ein schmerzerfülltes Geräusch von sich gibt. Aber wahrscheinlich hat sie glatt „Aua“ geschrien (Glattauer möge es mir verzeihen …).