Kategorie: Fundstücke

Die Reife von Romanfiguren

Irving

Aus: John Irving: „Straße der Wunder“, Diogenes Verlag 2016.

Apropos schluderig: Der erste Satz der deutschen Übersetzung von Irvings „Straße der Wunder“ ist aus einem speziellen Grund bemerkenswert. Nicht, weil er museumsreif schön wäre (vielmehr fällt er in die Kategorie „passt schon“). Sondern weil er – in der ersten Auflage zumindest – einen Sprachfehler enthält. Einen Patzer im ersten Satz, das gibt es auch nicht alle Tage.

Irvinganfang

Hier die Stellungnahme von Diogenes: „Lieber Bernhard, als große Irving-Fans tut der Satz uns selbst weh! Lektor, Korrektor, Setzer, tatsächlich haben alle die unvollständig ausgeführte Korrektur überlesen. Wir können nun leider nichts mehr anderes tun, als den Fehler für künftige Auflagen zu korrigieren.“

Über die Lesung von John Irving am 27. Mai 2016 im Münchner Residenztheater habe ich ein paar Zeilen in der SZ geschrieben.

Blaulicht im Rotlicht

„Weil du kennst als Blaulicht dein Rotlicht.“

Wolf Haas: Brennerova, Hoffmann und Campe, 2014.

Jetzt ist schon wieder nix passiert. Ob du es glaubst oder nicht, aber auch der achte Brenner-Fall kommt ohne die kultisch verehrte Eröffnung aus, die Wolf Haas in den späten Neunzigern zum Popstar unter den Krimischreibern gemacht hat. Passieren tut freilich schon etwas, viel sogar, frage nicht. Frauendilemma Hilfsausdruck. Und Lieblingssätze haut er auch wieder raus, der Leser-Duzer namens Erzähler. Da braucht man sich nur das obige Beispiel anzuschauen. Nur halt nicht ganz zu Beginn, wobei „Früher hat man gesagt, die Russinnen“ gar nicht mal so schlecht ist. Für den Anfang. Und Lieblingswörter! Jede Menge. Frauentränenumfaller. Solche Sachen. Mehr über „Brennerova“ habe ich für die SZ aufgeschrieben. Quasi Buchtipp. Und hier geht’s zu meinem Porträt über Wolf Haas, ebenfalls erschienen in der Süddeutschen Zeitung.

SZ_Haas

Erschienen am 16. Oktober 2014 in SZ Extra, der Kulturbeilage der Süddeutschen Zeitung. Weitere Einträge zu Wolf Haas im Museum der schönen Sätze: hier.

Käptn Pengs wahre Lügen

„Dieser Satz ist eine Lüge.“

Robert Gwisdek: Der unsichtbare Apfel. KiWi, 2014.

Dieser Satz ist ein Paradoxon. Und zwar ein besonders hinterlistiges. Denn wenn die Behauptung der Lüge gelogen ist, dann umkreist der Satz eine Wahrheit, oder nicht? Wegen Gedankenirrwegen wie diesen zählt die Formulierung zu den absoluten Lieblingssätzen von Robert Gwisdek. Dass der Realitätsrüttler aus Berlin nicht nur philosophische Hip-Hop-Miniaturen beherrscht, sondern auch in der Königsdisziplin Roman eine formidable Figur macht, bekräftigt er mit seinem irrwitzigen Debüt „Der unsichtbare Apfel“.

Darin präsentiert der 30-Jährige einen Jungen, der sich Igor nennt (in dem Namen seines Protagonisten sollten die 1 und die 0 sowie die Initialen des Autors enthalten sein); ein Wunderkind, das Kreise liebt und die Endlichkeit anzweifelt. Mit Wortwucht und schelmischer Freude am Experimentieren schildert Gwisdek Igors Reise aus der Realität, die wir normal nennen; spinnt eine Geschichte mit Perspektiven- und Weltenwechseln, die gespickt ist mit Rätseln und Symbolen. „Der unsichtbare Apfel“ ist eine Parabel auf das reine Bewusstsein, auf die Überwindung von Gedanken und Formen. Dass der Autor seinem wahnsinnigen Ritt eine scheinbare Lüge als Intro voranstellt, passt exzellent ins Konzept. Zumal er im zweiten Intro auf der nächsten Seite das Gegenteil nachreicht: „Dieser Satz ist wahr.“ Zur (kurzzeitigen) Entspannung des Lesers präsentiert er uns einen offiziellen ersten Satz, der vergleichsweise harmlos daherkommt: „Igor war ein unkonzentriertes Kind.“

Hier geht’s zum Interview, das ich mit Robert Gwisdek für die SZ geführt habe.