Kategorie: Fundstücke
Kaiser Franzobel
“Beim Elfmeter denken Tormann und Schütze, dass der jeweils andere denkt, er selber denkt, dass der andere denkt, er denkt, der andere denkt, er denkt, und so weiter, und auch wenn der Tormann nachdenkt und feststellt, dass man beim Nachdenken nur dem hinterher denkt, was andere schon gedacht haben, er folglich gar nicht denkt und dennoch völlig gedankenlos ins richtige Eck fliegt, kann es sein, dass der hirnlose Ball trotzdem an ihm vorbeigeht, weil sich Tausende Zuschauer fest aufs Tor konzentriert haben.“
Franzobel: „Gedankenspiele“, in: Franzobels großer Fußballtest (2008). Picus Verlag, 2008.
Mit der Kraft der Gedanken, die der ausgezeichnete Österreicher in diesem Aufsatz dribbelstark koordiniert, verhält es sich wie mit der Kraft der Worte. Sie ist physisch nicht messbar, doch allein der Glaube daran kann einen euphorisieren wie das entscheidende Tor in der Nachspielzeit. Als Fan der österreichischen Nationalmannschaft hat Franzobel, eigentlich Franz Stefan Griebl, nichts nicht viel zu lachen. Als satzgelenkiger Schriftsteller sehr wohl, wie man an der weltmeisterlichen Wortstafette erkennen kann, mit der er selbst Kaiser Franz schwindelig spielen dürfte.
Und überhaupt: Wer, wenn nicht er, wäre prädestinierter, über Fußball zu schreiben? Laut eigenen Angaben wurde er am Tag des Lattenpendlers in Wembley gezeugt, und sein Pseudonym entstand aus dem Ergebnis des Spiels Frankreich gegen Belgien: Fran2:0Bel.
Der längste Lieblingssatz der Welt
„Und so still und unauffällig, als würde er sie gar nicht auf die Lippen küssen, sondern als informierte ein schmierestehender Ganove die an den Vitrinen arbeitenden Schmuckdiebe mit einem gerade noch unterhalb der Alarmschwelle liegenden, praktisch unhörbar trockenen Lippengeräusch über das Herannahen des Nachtwächters, so kurz und flüchtig, als würde er sie gar nicht küssen, sondern als müsste ein zweihundertjähriger Butler mit dem trockenen Geräusch seiner wächsernen Lippen einen mitternächtlichen Geist in die Flucht schlagen, als würde er sie gar nicht küssen, sondern als müsste ein Teilnehmer an einem neurophysiologischen Experiment trotz seiner durch eine Fehlsichtigkeitsbrille künstlich herbeigeführten Schasäugigkeit versuchen, mit seinen Lippen das Lippensymbol an der Laborwand zu treffen, als würde er sie gar nicht küssen, sondern als müsste ein weltberühmter Tontechniker in einer allerletzten Feinabstimmung vor der alles entscheidenden Meisterwerkaufnahme testen, welchen Pegel allerfeinste, allertrockenste, direkt auf das Mikrophon gedrückte Lippengeräusche erreichen, als würde Benjamin Lee Baumgartner die namenlose Burgerverkäuferin gar nicht küssen, sondern als wäre er eine an Händen und Füßen gefesselte, allein in einen Tresorraum gesperrte Geisel, und dieser einsame Gefesselte musste gerade feststellen, dass er doch nicht allein, sondern zusammen mit einer lästigen Fliege eingesperrt war, die er nur mit einem Kussgeräusch verscheuchen konnte, das aber keinesfalls zu heftig ausfallen durfte, weil sonst der ganze Sprengstoff losging, den man ihm umgehängt hatte, oder war die Zärtlichkeit, die der Gefangene in den Fliegenkuss legte, schon ein erstes Symptom des Stockholm-Syndroms und die Geisel auf dem besten Weg, sich in die folternde Fliege zu verlieben, als würde Benjamin Lee Baumgartner die namenlose Burgerverkäuferin keineswegs küssen, sondern als wäre es der Rinderwahn, der ihn zu diesem unmotivierten Kopfzucken zwang, küsste er sie so kurz und flüchtig auf die Lippen, dass schon im nächsten Moment nicht mehr ganz sicher war, ob er es getan hatte.“
Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung (2012), Hoffmann und Campe (2012).
Wolf Haas hat ein neues Buch geschrieben, dessen erster Satz nicht museumswürdig ist. Das ist eine kolossale Überraschung, kamen die jüngsten Geschichten des Wiener Wortgenies doch einem Freifahrtsschein in die Listen der besten Romananfänge gleich.
Als Entschädigung stößt der freudestrahlende Leser in „Verteidigung der Missionarsstellung“ auf den vielleicht schönsten Schlangensatz der deutschsprachigen Literatur. Wie der Erzähler dieses grenzensprengenden Liebeswahnsinns immer neue Anläufe nimmt, um einen Kuss zu beschreiben, gleicht dem Auszug aus einem symphonischen Meisterwerk. So still und unauffällig, als würde Wolf Haas den namenlosen Leser keineswegs verzaubern, sondern als wäre es der Musenkuss, der ihn zu diesem Schreibrausch zwang, verzauberte er ihn so lang und nachhaltig, dass schon im nächsten Moment völlig sicher war, dass er etwas Großes getan hatte.
PS: Im Interview, das ich mit Wolf Haas für die Süddeutsche Zeitung geführt habe, erklärt der Schriftsteller, warum es ihm eine sehr persönliche Herzensangelegenheit ist, den Leser immer ein bisschen zu verzaubern.
Paradiesische Parabel
„Unsere Aufgabe besteht darin, bewusst und mit offenen Augen auf einen weiseren, freieren und strahlenderen Zustand hinzusteuern, ins Paradies zurückzukehren, Freundschaft mit der Schlange zu schließen und unsere Computer zwischen wilden Apfelbäumen aufzustellen.“
Tom Robbins: „Was ist der Sinn des Lebens?“, in: Chop Suey (2005). Rowohl, 2007.
Tom Robbins, Jahrgang 1932, ist der Gottvater der Metapher, der König der ungekrönten Vergleiche, der Lehrmeister der Phantasie, der Schöpfer der Wortschöpfung, der Erstplatzierte der ersten Sätze, der Erfinder der Kreativitätstheorie. Die wilden Romane des US-Amerikaners sind Sex, Philosophie, Lebensfreude. Unterhaltung, Religion, Politik. Und immer Inspiration für alle, die schreiben. Er ist der Maßstab der Erzählkunst. Er ist Literatur. Punkt. Hatten wir schon, macht aber nix. Punkt.
PS: Der Offenbarungssatz stammt aus Tom Robbins‘ Textesammlung „Chop Suey“. Ein Lesebuch, das Kritiken, Reisebeschreibungen, Würdigungen und Antworten auf all die Fragen enthält.
Boris voll im Bilde
„Man legt sich niemals mit BILD an, oder man gewinnt Wimbledon!“
Boris Becker zur Kreditaffäre um Christian Wulff, via Twitter, 2.1.2012.
Boris Becker, jüngster Wimbledon-Gewinner und noch immer weit entfernt von der Altersweisheit, sucht sein Glück neuerdings als Heavy-Twitter-User. Also tippt er in sein Handy, was sein Hirn hergibt. Da geht es um Fußball („FARFAN fuer schalke soll zurueck nach peru gehen und DEMUT lernen“), Kino („Just watched MI with Tom Cruise ….where is the beef ?“), Familie („Cruisin with noah“) und eben Politik. Denn da kennt er sich aus. Also überall. Denn der Boris ist nicht nur mit der Besenkammer bestens vertraut, sondern auch mit der Welt. Immer voll im Bilde. Quasi.
Das Dilemma der Medien
„Print ist tot, und Online ist scheiße!“
Starke Worte! Danke, Anja R. aus B.
Grafs Krümelkunst
Oskar Maria Graf, 1894 bis 1967, hat viele Spuren hinterlassen. Als Dichter, als Dramaturg, als Schriftsteller. Man kann die Spuren auch dort finden, wo man sie nicht vermutet: auf einem Bierdeckel. Den starken Satz vom Krümelmonster gibt’s im Literaturhaus München unter das Helle geschoben. Das haben sie sich hübsch zurechtgedacht, dort.