Der längste Lieblingssatz der Welt

„Und so still und unauffällig, als würde er sie gar nicht auf die Lippen küssen, sondern als informierte ein schmierestehender Ganove die an den Vitrinen arbeitenden Schmuckdiebe mit einem gerade noch unterhalb der Alarmschwelle liegenden, praktisch unhörbar trockenen Lippengeräusch über das Herannahen des Nachtwächters, so kurz und flüchtig, als würde er sie gar nicht küssen, sondern als müsste ein zweihundertjähriger Butler mit dem trockenen Geräusch seiner wächsernen Lippen einen mitternächtlichen Geist in die Flucht schlagen, als würde er sie gar nicht küssen, sondern als müsste ein Teilnehmer an einem neurophysiologischen Experiment trotz seiner durch eine Fehlsichtigkeitsbrille künstlich herbeigeführten Schasäugigkeit versuchen, mit seinen Lippen das Lippensymbol an der Laborwand zu treffen, als würde er sie gar nicht küssen, sondern als müsste ein weltberühmter Tontechniker in einer allerletzten Feinabstimmung vor der alles entscheidenden Meisterwerkaufnahme testen, welchen Pegel allerfeinste, allertrockenste, direkt auf das Mikrophon gedrückte Lippengeräusche erreichen, als würde Benjamin Lee Baumgartner die namenlose Burgerverkäuferin gar nicht küssen, sondern als wäre er eine an Händen und Füßen gefesselte, allein in einen Tresorraum gesperrte Geisel, und dieser einsame Gefesselte musste gerade feststellen, dass er doch nicht allein, sondern zusammen mit einer lästigen Fliege eingesperrt war, die er nur mit einem Kussgeräusch verscheuchen konnte, das aber keinesfalls zu heftig ausfallen durfte, weil sonst der ganze Sprengstoff losging, den man ihm umgehängt hatte, oder war die Zärtlichkeit, die der Gefangene in den Fliegenkuss legte, schon ein erstes Symptom des Stockholm-Syndroms und die Geisel auf dem besten Weg, sich in die folternde Fliege zu verlieben, als würde Benjamin Lee Baumgartner die namenlose Burgerverkäuferin keineswegs küssen, sondern als wäre es der Rinderwahn, der ihn zu diesem unmotivierten Kopfzucken zwang, küsste er sie so kurz und flüchtig auf die Lippen, dass schon im nächsten Moment nicht mehr ganz sicher war, ob er es getan hatte.“

Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung (2012), Hoffmann und Campe (2012).

Wolf Haas hat ein neues Buch geschrieben, dessen erster Satz nicht museumswürdig ist. Das ist eine kolossale Überraschung, kamen die jüngsten Geschichten des Wiener Wortgenies doch einem Freifahrtsschein in die Listen der besten Romananfänge gleich.

Als Entschädigung stößt der freudestrahlende Leser in „Verteidigung der Missionarsstellung“ auf den vielleicht schönsten Schlangensatz der deutschsprachigen Literatur. Wie der Erzähler dieses grenzensprengenden Liebeswahnsinns immer neue Anläufe nimmt, um einen Kuss zu beschreiben, gleicht dem Auszug aus einem symphonischen Meisterwerk. So still und unauffällig, als würde Wolf Haas den namenlosen Leser keineswegs verzaubern, sondern als wäre es der Musenkuss, der ihn zu diesem Schreibrausch zwang, verzauberte er ihn so lang und nachhaltig, dass schon im nächsten Moment völlig sicher war, dass er etwas Großes getan hatte.

PS: Im Interview, das ich mit Wolf Haas für die Süddeutsche Zeitung geführt habe, erklärt der Schriftsteller, warum es ihm eine sehr persönliche Herzensangelegenheit ist, den Leser immer ein bisschen zu verzaubern.

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