Getagged: Erste Sätze

Schillernde Verirrungen

„In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen.“

Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786). Reclam, 1989.

Konflikt ist der Stoff, aus dem gute Geschichten sind. Das weiß jeder, der liest und jeder, der schreibt. Friedrich Schiller, der mit seiner berühmten Eröffnung Krimis und Schurkenstücken die Existenzberechtigung erteilt, wusste das selbstverständlich auch. Wenngleich man sich fragt, ob der blitzgescheite Dichter und Philosoph (1759 bis 1805), diese Supernova der Weimarer Klassik, sich selbst zu menschlichen Verirrungen hat hinreißen lassen? Es heißt, der Teeny-Schiller soll heimlich Tabak geschnupft und mit seinen Kumpels verbotene Schriften gelesen haben. Und dem Twen-Schiller wird nachgesagt, er soll sich aus der Karlsschule, wo er zunächst Recht, dann Medizin studierte, davongestohlen haben, ohne eine Urlaubsgenehmigung beantragt zu haben. Schiller wurde in Arrest gesteckt, später wurde dem jungen Dichter Festungshaft in Stuttgart angedroht. Es gab also durchaus Konflikte im Leben des Goethe-Freundes, zumal das Verhältnis der beiden Genies zunächst von Konkurrenz und Missgunst geprägt war.

„Der Verbrecher aus verlorenen Ehre“ ist eines der wenigen Erzählprosa-Stücken von Schiller, der sich mehr Ruhm als Dramatiker und Lyriker erschrieben hat. Ein Kriminalbericht auf wenigen Seiten, der auf einer wahren Geschichte beruhen soll. Eröffnet von einem schillernden Gedanken.

Nächte mit Hacke

„Nachts, wenn ich einsam bin, wenn mich die letzten Gesichter auf dem Fernsehschirm verlassen haben und weiße Krokodile sich langsam aus dem Spülstein schieben, setze ich mich gern ein wenig in die Küche und unterhalte mich mit dem Kühlschrank.“

Axel Hacke: Nächte mit Bosch (1991). dtv, 1994.

Wahrscheinlich tut man ihm unrecht. Aber angesichts der Tatsache, dass jemand mit Küchengeräten plaudert, noch dazu mit unterkühlten Exemplaren und in absoluter Dunkelheit, angesichts dessen muss die Frage erlaubt sein, ob dieser Boschflüsterer noch alle Eiswürfel im Gefrierfach hat? Unbestritten ist, dass Axel Hacke nicht von dieser Autorenwelt ist. Wahrscheinlich wurde er von höher entwickelten Krokodilen anno 1956 mit der Mission in Braunschweig ausgesetzt, als Wortgott in Menschengestalt nach München zu ziehen, um hier zunächst der Deutschen Journalistenschule (DJS) und dann der Süddeutschen Zeitung die neue Ikone zu geben.

Denn was Hacke in die Tasten hackt, und das nun schon seit mehr als 30 Jahren, gleicht überirdischer Herrlichkeit. Der ehemalige Politikstudent ist Streiflichtgestalt und Reportagenkönig, Kolumnengott und Schönschriftsteller, Worterfinder und Satzfeiler. Dabei immer einer, der sich selbst nicht wichtiger nimmt als die Geschichte, die er erzählt. Wer so perfekt ist, der darf sich gerne nächtelang mit Kühlschränken unterhalten. Wenn’s hilft …

PS: In meiner eigenen Zeit an der DJS war mir Hacke stets ein großes Vorbild. Ein Gespräch mit meinem Kühlschrank (oder irgendeinem anderen) habe ich bis heute nicht hinbekommen.

Wie ein Satz Ihr Leben verändern kann

„Es gibt wenig, dem sich der Mensch mit größerer Hingabe widmet als dem Unglücklichsein.“

Alain de Botton: Wie Proust Ihr Leben verändern kann – Eine Anleitung (1997). Fischer Taschenbuch, 2000.

Also glücklich macht diese Eröffnung nicht. Eher unglücklich. Und während wir uns damit befassen, uns dem Sinn dieser Worte hinzugeben, merken wir, dass er Recht haben könnte, der Autor. Unglücklich geht immer. Ein Klassiker der Leidenschaften.

Alain de Botton hat oft Recht. Der 1969 in Zürich geborene Schriftsteller hat Philosophie studiert, ehe er sich beherzt auf komplizierte Themen stürzte, um sie vereinfacht darzustellen. Zum Beispiel Marcel Proust. Der berühmteste Sucher der verlorenen Zeit verlangt seinen Lesern bekanntlich viel ab, Geduld vor allem, hat doch allein der erste Teil seines Sieben-Bände-Zyklus 564 Suhrkamp-Seiten. Alain de Botton destilliert daraus ein Ratgeberbuch. Und beantwortet Fragen wie: Wie man das Leben liebt. Wie man erfolgreich leidet. Wie man sehen lernt. Und so weiter. Ganz im Sinne des französischen Stubenhockers. Der widmete sich gerne dem Unglücklichsein. Und schuf Sätze, die Leben verändern können. Und glücklich machen.

Lob für Lodge

„Der hochgewachsene Mann mit grauem Haar und Brille, der am Rand der Menge im Hauptraum der Galerie steht und sich tief zu der jungen Frau in der roten Seidenbluse hinunterbeugt, den Kopf zur Seite geneigt, weise nickend und hin und wieder phatisch murmelnd, ist nicht, wie man denken könnte, ein Priester außer Dienst, den sie dazu überreden konnte, ihr inmitten einer Party die Beichte abzunehmen, oder ein Psychiater, dem sie eine kostenlose Beratung abgeschwatzt hat; Zweck der Übung ist es auch nicht, ihm einen besseren Einblick in ihr Dekolleté zu verschaffen, obgleich das ein willkommener – leider auch der einzige – Bonus ist, der in seiner derzeitigen Situation für ihn herausspringt.“

David Lodge: Wie bitte? (2008). Heyne, 2010.

Wie bitte? Das soll ein Satz sein? In der Tat: Der Einstieg in David Lodges gleichnamigen Roman schlängelt sich an allerlei Satzzeichen vorbei – Kommas, Semikolons, Gedankenstriche -, ehe der erlösende Punkt erreicht ist. Erlösend ist freilich relativ, denn eine Qual ist der Satz nicht, und wenn, dann eine schöne. Lodge, Jahrgang 1935, versteht es meisterlich und rhythmisch sauber, allerlei Köder auszulegen und seidenblusenschlüpfrige Reizworte einzustreuen, während er seine lebenskluge Geschichte über die Leiden des schwerhörigen Linguistikprofessors Desmond Bates beginnt.

Später wird der Leser erfahren, dass es nicht der allwissende Erzähler ist, der hier auftrumpft, sondern die Hauptfigur selbst, die einige ihrer Erlebnisse in distanzierter Form skizziert, um literarisch in Form zu bleiben. Das bedeutet Lesefreude auf mehreren Ebenen. Lob für Lodge, den Meister des britischen Universitätsromans.

Wassermusik im Blut

„Während die meisten jungen Schotten seines Alters Röcke lüpften, Furchen pflügten und die Saat aussäten, stellte Mungo Park dem Emir von Ludamar, Al-Hadsch‘ Ali Ibn Fatoudi, seine bloßen Hinterbacken zur Schau.“

T. Coraghessan Boyle: Wassermusik (1980). Rowohlt, 1997.

Keine Frage, der Satz ist Wassermusik in den Ohren des Lesers! Ein Auftakt wie ein Hieb mit der Weißschwanzgnupeitsche! Keinen Schimmer, worüber und worauf man sich am meisten freuen soll. Wer seinen Helden Mungo nennt und ihn nach wenigen Wörtern auf den Emir von Ludamar treffen lässt – mit britenblassem Gesäß voraus wohlgemerkt -, der hat definitiv selbstgebrannten Schnaps in der Hausbar.

T. C. Boyle, Jahrgang 1948, zeigt gleich bei seinem Romandebüt, das wenige Jahre nach seinem Doktortitel in englischer Literatur des 19. Jahrhunderts erschien, wie man das Zelt des Entdeckungsreisenden zum Dampfen bringt. „Wassermusik“ erzählt von zwei Westafrika-Expeditionen des Schotten Mungo Park, der sich um 1800 auf die Suche nach dem Niger machte – und an den Umständen scheiterte. Boyle dagegen triumphierte. Romanreisen in das Detaildickicht der Geschichte blieben seine Leidenschaft. Auf diesem Acker hat der gedankenwilde US-Amerikaner tiefe Furchen gepflügt und schöne Saat gesät.

Sex im Aquarium

„Diesmal kamen die Architektengattin und ich fast gleichzeitig, sie schrie noch lauter als beim ersten Mal, aber als sie ihren Rock glatt streifte und wir aus der Küche zurück zu den anderen gingen, hatte keiner etwas bemerkt.“

Harald Schmidt: Tränen im Aquarium (1993). Kiepenheuer & Witsch, 1998.

Pointe vor Anstand. Nach diesem Credo handelt Harald Schmidt, Jahrgang 1957, seit er mit seinem ersten Soloprogramm den Bogen überspannte: „Ich hab‘ schon wieder überzogen“ hieß das Stück aus den tiefen achtziger Jahren. Der erste Satz seines ersten Buches kommt folgerichtig übertrieben dreist daher. Die Eröffnung wäre billig und schlüpfrig, würde er nicht Folgendes hinterherschicken:

„Dieser Satz hat nichts mit dem folgenden Kapitel zu tun, aber William Faulkner hat angeblich gefordert, der erste Satz eines Buches müsse so sein, daß der Leser gewzungen sei, weiter zu lesen.“

Wenn man so möchte, hat Schmidt gestartet, womit sich Tommy Jaud zehn Jahre später zum Millionär ulkte: den Siegeszug des Comedy-Buches. Und wie schreibt Herbert Feuerstein auf dem Buchrücken: „Ein Buch, das in keinem Haushalt fehlen darf, wo ein Tischbein zu kurz ist.“

Da steppt der Wolf

„Der Tag war vergangen, wie eben die Tage so vergehen; ich hatte ihn herumgebracht, hatte ihn sanft umgebracht, mit meiner primitiven und schüchternen Art von Lebenskunst; ich hatte einige Stunden gearbeitet, alte Bücher gewälzt, ich hatte zwei Stunden lang Schmerzen gehabt, wie ältere Leute sie eben haben, hatte ein Pulver genommen und mich gefreut, daß die Schmerzen sich überlisten ließen, hatte in einem heißen Bad gelegen und die liebe Wärme eingesogen, hatte dreimal die Post empfangen und all die entbehrlichen Briefe und Drucksachen durchgesehen, hatte meine Atemübungen gemacht, die Gedankenübungen aber heut aus Bequemlichkeit weggelassen, war eine Stunde spazieren gewesen und hatte schöne, zarte, kostbare Federwölkchenmuster in den Himmel gezeichnet gefunden.“

Hermann Hesse: Der Steppenwolf (1927). Suhrkamp, 1974.

Der Satz war vergangen, wie eben lange Sätze so vergehen; der Autor hatte ihn herumgebracht, hatte ihn sanft umgebracht, mit seiner anspruchsvollen und klugen Art von Schreibkunst; er hatte einige Stunden daran gearbeitet, andere Bücher gewälzt, er hatte zwei Stunden lang Schmerzen gehabt, wie ältere Autoren sie eben haben, hatte ein Pulver genommen und sich gefreut, dass die Schmerzen sich überlisten ließen, hatte in einem heißen Bad gelegen und die liebe Wärme eingesogen, hatte dreimal die Post empfangen und all die entbehrlichen Briefe und Drucksachen durchgesehen, hatte seine Atemübungen gemacht, die Gedankenübungen aber heut aus Bequemlichkeit weggelassen, war eine Stunde spazieren gewesen und hatte schöne, zarte, kostbare Federwölkchenmuster in den Himmel gezeichnet gefunden.

Danach schrieb Hermann Hesse (1877 bis 1972) den „Steppenwolf“ zu Ende und wurde weltberühmt. Doch, so kurz kann man das sagen.

Faust Gottes

„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.“

Johann Wolfang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil (1808). Reclam,  1993.

Johann Wolfgang von Goethe, 1749 bis 1832, müsste eigentlich Johann Wolfgang von Goettlich heißen. Denn die Supernova der Dichtkunst war einer der wenigen Universal-Schlaumeier, deren Genialität keine Grenzen duldete. Seine 1808 veröffentlichte Tragödie über Doktor Faustus gilt als das bedeutendste und meistzitierte Werk der deutschen Literatur. Wie er die „Zueignung“, eine Widmung in Versform, beginnt, kommt einem schriftstellerischen Urknall gleich. Der Autor spricht darin die Figuren seiner Geschichte an, berichtet vom Erwachen des Schaffensprozesses. „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“ – so also fängt es an, das vielleicht älteste Making-of der Welt.

Robbins‘ wilde Fabelwesen

„Es heißt, Tanuki hätte seinen Hodensack als Fallschirm benutzt, als er vom Himmel fiel.“

Tom Robbins: Villa Incognito (2003). Rowohlt, 2005.

Tom Robbins, Jahrgang 1932, ist der Gottvater der Metapher, der König der ungekrönten Vergleiche, der Lehrmeister der Phantasie, der Schöpfer der Wortschöpfung, der Erstplatzierte der ersten Sätze, der Erfinder der Kreativitätstheorie. Die wilden Romane des US-Amerikaners, in diesem Fall eine bizarre Fabel für Erwachsene, sind Sex, Philosophie, Lebensfreude. Unterhaltung, Religion, Politik. Und immer Inspiration für alle, die schreiben. Er ist der Maßstab der Erzählkunst. Er ist Literatur. Punkt. Hatten wir schon mehrfach, macht aber nix. Punkt.

PS: Tanukis gehören zur Gattung der ostasiatischen Wildhunde und trinken am liebsten selbst gebrannten Sake.

Alles kracht zusammen

„Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke.“

Christian Kracht: Faserland (1995). Goldmann, 1997.

Christian Kracht, Jahrgang 1966, gilt als Vorreiter der Popwelle in der deutschen Literatur. Er selbst lehnt den Begriff ab, spricht stattdessen von „Light Entertainment“. Populär wurde sein Debütroman allemal: Heute zählt „Faserland“ zu den bekanntesten deutschsprachigen literarischen Texte der Neunziger. Die sinnfreie Reise des namenlosen Schnösels von Nord- nach Süddeutschland erhebt die Leere zur Kunstform, als Spiegelbild einer teilnahmslosen Jugend, deren Dekadenz zum Himmel stinkt. Dreist auch der erste Satz: Da steht also ein Mann an der nördlichsten Fischbude Deutschlands und kippt sich ein Bier hinter die Binde. Das allein wäre so bemerkenswert wie die Ankündigung, dass auf Ebbe garantiert Flut komme, wenn sich in den Worten nicht ebenjene Hoffnungslosigkeit und Belanglosigkeit einer ganzen Generation widerspiegeln würde. Ein Gesellschaftsroman über das Verschwinden. Von allem. Auch das scharfe S im ersten Satz ist inzwischen aus den Büchern verschwunden.