Getagged: Erste Sätze
Herrlicher Herrndorf
„Als erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee.“
Wolfgang Herrndorf: Tschick (2010). Rowohlt, 2012.
Als erstes ist da dieser Satz. Wabert dir ins Hirn wie ein Duftgemisch, dem sich keiner entziehen kann. Natürlich will man wissen, wie es zu dieser kuriosen Kombination der Flüssigkeiten kam, wessen Körpersaft zu riechen beginnt, und wer da in diesem saloppen Ton drauflosplappert, als wäre seine Geschichte die interessanteste der Welt.
Nun macht ja bekanntlich der Ton den Roman. Eine einzigartige und allzeit authentische Stimme zu finden, ist eine der schwierigsten Hürden, die ein Schriftsteller überwinden muss, ehe er die Helden seiner Fantasie auf Reisen schickt. So gesehen ist Wolfgang Herrndorf ein Meister des Tons. Ein Tonmeister. Die Art und Weise, wie der Wahlberliner die Abenteuer von „Tschick“ und seinem Freund Maik Klingenberg erzählt, ist einer der Hauptgründe für die sagenhafte Beliebtheit dieser großen Fahrt ins Leben. Der Bestseller, der es verdient hat einer zu sein, ist ein zeitloses Buch über das Erwachsenwerden, über die deutsche Provinz, über das Ausloten von Traum und Wirklichkeit. Reif ersonnen, frisch erzählt. Herrndorf, Jahrgang 1965, biedert sich nicht an, er wird zum besten Kumpel von der Hassliebe namens Jugend. Schonungslos wie Blut, aufbauend wie Kaffee.
Der alte Bär und das Mehr
„Er war ein alter Mann, der allein in einem kleinen Boot im Golfstrom fischte, und er war jetzt vierundachtzig Tage hintereinander hinausgefahren, ohne einen Fisch zu fangen.“
Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer (1952). Rowohlt, 2011.
Hemingway. Ein Wort wie Hemmungen. Dabei war Ernest, Sohn eines Landarztes und einer Opernsängerin aus Illinois, alles andere als eine Memme. Im Gegenteil. Wie der alte Mann und das Meer war der amerikanische Schriftsteller einer dieser Helden, die gerne als letzte Helden bezeichnet werden, weil man solche Männer heutzutage nicht mehr findet (sagen zumindest die Frauen, die sich den archaischen Typus gerne zurückträumen, auch wenn er in ihr emanzipiertes Leben passt wie Hemingway ins Männer-Spa). Themen wie Tapferkeit und Mühsal, Kampf und Leiden, ziehen sich durch sein Werk wie die Angelschnur durch das fischreiche Gewässer. Ernest Hemingway war ein Mann mit klarem Rollenverständnis. Er war Kriegsreporter und freiwillig an der Front. Er wurde schwer verwundet und hat sich schwer verliebt. Sein Gesicht hatte Falten, seine Geschichten Tiefe, bevor er sich 1961, an einer bipolaren Störung erkrankt, erschoss. Wie schon sein Vater.
Der Einstieg in seine Novelle, die ihm Mitte der fünfziger Jahre Pulitzer- und Literaturnobelpreis einbrachte, ist so deprimierend wie grandios. Alt, allein, klein, 84 Tage, ohne Fisch – kann es etwas Traurigeres geben? Trotzdem Vielleicht gerade deshalb ist die Erzählung, die in Hemingways Wahlheimat Kuba über die Bühne geht, so außergewöhnlich. Das Ein-Personen-Kammerspiel auf hoher See brennt sich als zeitloses Gleichnis ins Langzeitgedächtnis. Als Gleichnis für ein Dasein, dessen Sinnhaftigkeit nicht durch äußere Siege bestätigt werden muss.
Ewig fein
„Als er in ihr Leben trat, verspürte Judith einen stechenden Schmerz, der gleich wieder nachließ.“
Daniel Glattauer: Ewig Dein (2012). Deuticke, 2012.
Keine Sorge Pech gehabt, hier geht es nicht um fesselnde BDSM-Prosa. Auch bissige Vampirromanzen oder Piercing-Krimis könnten so beginnen, gehören jedoch nicht zu den Spezialgebieten des Autors und Journalisten aus Wien. Wer da einen Einstieg findet, dessen Doppeldeutigkeit sich erst im Lauf der Geschichte entfaltet wie ein Geschwür mit schlechten Heilungschancen, ist Daniel Glattauer. „Ewig Dein“ ist ein schaurig-schönes Psychodrama mit Thriller-Elementen, das keine Peitsche braucht und auch kein Blut, um unter die Haut zu gehen. Denn während die eingangs beschriebene Pein am Fuß, ausgelöst durch das Gedränge in der Käseabteilung, gleich wieder nachlässt, beginnt der Seelenschmerz erst sich aufzubauen, den der Fersentreter in der Raulederjacke der Protagonistin zufügt. Ein scheinbar einfacher szenischer Einstieg, in dem jedoch der ganze Roman lauert. Chapeau!
Dieser Glattauer ist schon ein feiner Beobachter. Wie er zwischenmenschliche Beziehungen sich entwickeln lässt, nachvollziehbar, detailreich, wortgewaltig, ist eine Schau. Darin ist der studierte Pädagoge ein Meister. Damit gelang ihm der Durchbruch. Auch seine in aller Welt gelesenen E-Mail-Romane Gut gegen Nordwind (2006) und Alle sieben Wellen (2009) fußen auf der Stärke der akribisch beschriebenen Anziehungskraft.
PS: Im Buch ist leider nicht notiert, ob Judith nach dem Fersentritt ein schmerzerfülltes Geräusch von sich gibt. Aber wahrscheinlich hat sie glatt „Aua“ geschrien (Glattauer möge es mir verzeihen …).
Kleine Göttin, große Kunst
„Wer da im Bad von Zimmer 314 ein Kondom durchpikst, ist Bica (1,49 m; trinkt am liebsten einen Galao).“
Paul Mesa: Die kleine Göttin der Fruchtbarkeit (2010). Rowohlt, 2011.
Wer da am Anfang von Roman 1 das Gummiband des Gewöhnlichen durchpikst, ist Paul (einskommairgendwas; trinkt am liebsten guten Espresso, wahlweise bei einem Buch oder einer schönen Aussicht). Paul heißt Mesa und nennt sich Waldscheidt. Stephan Waldscheidt. Unter diesem Pseudonym schreibt der geborene Saarbrücker und gelernte Texter Satiren, Glossen und Schreibratgeber.
In seinem Romandebüt zeigt Mesa, dass er nicht nur ein gründlicher Coach ist, sondern sein theoretisches Wissen auch exzellent selbst in die Praxis überführen kann. Schon der erste Satz ist bezaubernd. Und wirft mindestens sechs Fragen auf, auf deren Antworten hoffend, man selbstverständlich weiterliest: Wer ist Bica, warum heißt sie so und warum ist sie so klein? Weshalb nimmt sie Parisern ihre Existenzberechtigung, was treibt sie in einem Hotel, und was ist gleich noch mal ein Galao? Dass alle in der skurrilen Familienkomödie auftretenden Personen nach Größe und Lieblingsgetränk kategorisiert werden (in Klammern, wohlgemerkt), ist typisch für das charmante Buch um Flucht und Sucht nach Liebe, Kinderwunsch und Reiselust. Verblüffende Ideen gibt es hier zuhauf. Dass der Grafiker beim Kleinen Schloßhotel das „l“ vergessen hat, ist eine davon.
Lolitas Reiz
„Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden.“
Vladimir Nabokov: Lolita (1955). Rowohl 1999.
Lo-li-ta. Da schnalzt die Zunge. Nicht nur die des lustfreudigen Literaturwissenschaftlers Humbert Humbert, den uns Vladimir Nabokov (1899 bis 1977) in seinem bekanntesten Roman als zweifelhaften, weil hebephilen Ich-Erzähler präsentiert. Auch der Leser freut sich über so einen li-la-lupenreinen Meisterbeginn. Ohne Verben kommt sie aus, diese feurige Eröffnung, die so vieles verspricht und wenig vermissen lässt. Klangmalerei, Alliteration, Rhythmik – Nabokov zieht alle Stilregister, und ähnlich macht er weiter: „Meine Sünde, meine Seele.“ Eine Anleitung zum Nachsprechen folgt sogleich: „Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne.“ Dritter Satz: erstklassig!
Der Roman um die sexuelle Beziehung von Humert Humbert zu der zwölfjährigen Dolores, die er Lo oder Lolita nennt, war selbstverständlich umstritten. Der Romananfang ist unumstritten. Unumstritten grandios.
Gonzo ganz groß
„Wir waren irgendwo bei Barstow am Rande der Wüste, als die Drogen zu wirken begannen.“
Hunter S. Thompson: Angst und Schrecken in Las Vegas (1971). Goldmann, 1998.
Wie bei einem gottverdammten Drogenrausch die Wirklichkeiten, so vermischen sich beim Gonzo-Journalismus reale, autobiographische und fiktive Erlebnisse zu einem intensiven Ereignisnebel. Hunter S. Thompson (1937 bis 2005) hat diese hochgradig subjektive Form des New Journalism wenn nicht salon-, so doch zitierfähig gemacht. Der US-amerikanische Autor hat durch seine Exzentrik nicht nur den 1967 gegründeten „Rolling Stone“ auf Kurs gebracht („Alle eiern, einer rollt“). Mit „Fear And Loathing In Las Vegas“ hat er wenige Jahre später den Roman zum eigenen Stil geschrieben.
Eine Geschichte über Flucht und Scheitern, die radikal mit dem American Way Of Life abrechnet und mit Johnny Depp 1998 verfilmt wurde. Das erbarmungslos überdrehte Roadmovie um einen Sportreporter und seinen skurrilen Anwalt Dr. Gonzo basiert auf zwei Reisen, die Thompson 1971 nach Las Vegas unternommen hat. So schnell und betörend wie die Drogen bei den Protagonisten wirkt allein der erste Satz auf den Leser. Der Rest ist: Rausch.
Moses Mashup
„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“
Die Bibel, Das Alte Testament, Die fünf Bücher Mose, Das Buch Genesis. Entstehungszeit unbekannt (Wissenschaftler spekulieren zwischen 1000 und 400 v. Chr.). Herder-Verlag, 1980.
Himmel, hilf! Hier nun haben wir einen ersten Satz, der vor Macht, Symbolik und Transzendenz nur so strotzt, der prägnant und forsch, dennoch locker-leicht daherkommt, als bekäme der Urknall eine Notiz im Vermischten; jedoch wissen wir nicht, wen wir für diesen göttlichen Beginn ein „Gefällt mir“ in seiner Facebook-Chronik hinterlassen dürfen. Wir wissen nichts. Der jüdischen und christlichen Tradition zufolge ist Mose der Autor des Pentateuchs, der das Alte Testament einleitet und von der Schöpfung bis bis zur Ansiedlung im gelobten Land Kanaan erzählt.
Wissenschaftler indes gehen beim ersten Buch Moses von einer mehrstufigen Entstehungsgeschichte mit verschiedenen Quellen und Überarbeitungen aus. Die Endredaktion des Textes wird auf frühestens 400 v. Chr. datiert. Ob nun vor dem Hintergrund dessen die Frage erlaubt sein darf, ob das Guttenbergsche Präzisionsverfahren älter ist, als alle annehmen? Moses Mashup? Lob der Heiligen Kopie? Himmel, hilf!
PS: Einen anderen Blickwinkel auf die Bibelereignisse gewährt Christopher Moore.
Ostermaiers Maiandacht
„Immer wieder, wenn es Mai wird, die Gräser blühen, die Hormone sich labbadiaesk ,hochsterilisieren‘, wenn Madrid in Italien liegt, die Torkanonen auf Spatzen schießen und die Elfmeterschützen vor Petrus stehen, weil sie den Ball in den Wolken suchen – immer dann schlafen Bayernfans schlecht.“
Albert Ostermaier: „Dahoam san mia mia“, erschienen in der Süddeutschen Zeitung, München, 16./17.5.2012
Den Fußballsport in Worte zu fassen, ist wie Elfmeterschießen. Die einen punkten, weil sie genau zielen; andere versagen, verstolpern oder schießen übers Ziel hinaus. Einer, der es gut kann wie keiner, ist Albert Ostermaier. In seinem grandiosen Essay zum Champions-League-Finale seines Lieblingsvereins gelingt dem Schriftsteller und Dramaturg, Jahrgang 1967, wahre Fußballpoesie. In einem Satz bringt er auf den Punkt, wie Bayernfans im Mai sich fühlen, en passant streift er Anekdoten und geflügelte Wortpässe und vergisst noch nicht einmal, unabdingbare Schlüsselreizwörter einzuweben wie Gras, Tor, schießen, Ball. Wer so beginnt, hat einen Pokal verdient, egal, wie das Spiel gegen Chelsea ausgeht. Womöglich liegt es ja daran, dass der geborene Münchner als Torhüter der Autorennationalmannschaft die nötige Praxis zur Theorie sammelt. Mit Elfmetern kennt er sich also aus, der AuTorwart.
Frau und Vorurteil
„Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, daß ein Junggeselle im Besitz eines schönen Vermögens nichts dringender braucht als eine Frau.“
Jane Austen: Stolz und Vorurteil (1813). Manesse Verlag, 2003.
Frauen nun wieder könnten bekräftigen, dieser Satz birgt wirklich eine allgemein anerkannte Wahrheit in sich. Eine, die selbst dem Radiergummi der Zeit zu trotzen imstande ist. Ein schönes Vermögen braucht immer eine Frau – ob daran nun ein Junggeselle hängt oder ein fremder Ehemann, spielt keine Rolle. Solche Gedanken hatte Jane Austen (1775 bis 1817) freilich nicht, zumindest hat sie diese nicht der Nachwelt hinterlassen. Aber eine Vorliebe fürs Verballhornen von Mensch und Gesellschaft hatte die gebildete Britin durchaus. In einer scharfen Art und Weise, wie sie im frühen 19. Jahrhundert nicht zum gängigen Umgangston gehörte – egal ob Pub-Nase, Gentry- oder Adelsvertreter.
Schon deshalb ist Austen, die selbst nie heiratete und anfangs unter „By a lady“ veröffentlichte, eine der größten Autorinnen der Insel. Ihre Werke gehen weit über das oft belächelte Genre der „romantischen Liebesgeschichte“ hinaus und wirken bis heute nach. Mr Darcy zum Beispiel, dieses aus femininem Blickwinkel unbedingt anzuhimmelnde Mannsbild, hat nicht nur in Bridget Jones seine Renaissance erfahren. Er ist ewiges Sinnbild für den reichen wie begehrenswerten Schönschnösel. Frauen nun wieder.
Jetzt ist schon wieder Haas passiert
„Jetzt ist schon wieder was passiert.“
Wolf Haas: Der Knochenmann (1997). Rowohlt, 2006.
Wolf Haas, Jahrgang 1960, ist ein Meister des kreativen Erzählens, und ob du es glaubst oder nicht, aber der Österreicher hat einen ganz eigenen Stil gefunden. Leser-Duzer Hilfsausdruck. Berühmt gemacht haben Haas seine Brenner-Krimis, deren berühmter erster Satz vor allem deshalb so berühmt ist, weil er so unverschämt leicht daherkommt. Gleichzeitig lastet alles auf ihm: die Neugier, was genau wem passiert ist; die Spannung, welche Folgen das hat; der Wissensdurst, wer der Informant ist, der offensichtlich schon bei früheren Ereignissen Augenzeuge war.
Als zum siebten Mal schon wieder was passiert ist, schenkt uns der Autor eine neue Eröffnung. Und jetzt pass auf, die hat es ebenfalls in sich, weil das Plappermaul von Erzähler ja eigentlich im sechsten Band gestorben ist. Irgendwie dann aber doch nicht, wie sich in „Der Brenner und der liebe Gott“ herausstellt. Und im Interview, das ich einmal mit ebenjenem Erzähler führen durfte, machte er ebenfalls einen kreuzfidelen Eindruck. Überschäumend Hilfsausdruck. Über den Haas hatte er auch was zu berichten: Der sei, ob du es glaubst oder nicht, „ein blasses Bürscherl, das viel vor dem Computer sitzt. Und ein Interview nach dem anderen, das kann auch nicht gesund sein. Ich sage, so ein junger Mensch sollte auch einmal hinaus gehen, Sport, Mädchen, alles. Aber bitte, das muss er selber wissen.“
