Kategorie: Erste Sätze

Gibsons Fernblick

„Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal eingestellt ist.“

William Gibson: Neuromancer (1984). Heyne, 2000.

William Gibson, Jahrgang 1948, ist einer dieser Science-Fiction-Autoren, denen man das „Fiction“ wegredigieren sollte. Müsste! Denn allein das, was sich der US-Amerikaner in seinem Debütroman „Neuromancer“ herbeischrieb, war zuweilen alles andere als erfunden, wie sich freilich erst später herausstellte: Begriffe wie Cyberspace, Cyberpunks oder Matrix muss ihm einer aus der Zukunft geflüstert haben (Trinity? Morpheus!) Also geklaut? I wo, wohl eher eine Frühform des Future-Mashup! Einen bösen Schnitzer hat sich Gibson aber dennoch geleistet – und das ausgerechnet im ersten, zukunftsweisenden Satz. Dass nämlich ein „toter Kanal“ bald schon kaum mehr zu finden sein würde in der überbevölkerten Fernsehlandschaft, hätte er wissen müssen, der olle Futur-Fex.

Nick, nackt

„Sie waren von England nach Minneapolis geflogen, um sich ein Klo anzuschauen.“

Nick Hornby: Juliet, Naked (2009). Kiepenhauer & Witsch, 2009.

Nick Hornby, Jahrgang 1957, schreibt über Fußball, Pop und Frauen. Also über die wichtigsten männlichen Lebensinhalte. Kerle lesen zwar in der Regel keine Romane, aber Hornbys Taktik geht trotzdem auf. Mit seinem Debüt „Fever Pitch“ hat er das Ballfieber-Buch schlechthin vorgelegt (mehr dazu hier, hatten wir schon mal). Auch der erste Satz bei einem seiner jüngsten Werke ist Champions League. Er strotzt vor dem, worauf der populäre Brite sein gesamtes Werk begründet: Leidenschaft – egal ob für Fußball, Frauen, Familie oder Musik. Vorwerfen kann man Hornby höchstens eines: Er setzt auf den falschen Verein. Aber man kann nicht alles haben.

Buntspecht in Lauerstellung

„Im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts, einer Zeit, in der die westliche Zivilisation zu rasch zur Neige ging, um es sich wohlsein zu lassen, und doch wieder zu langsam, um richtig aufregend zu sein, hockte fast alle Welt auf der Kante eines immer teurer werdenden Theatersessels und wartete – je nach persönlicher Neigung – in Furcht, Hoffnung oder Langeweile darauf, daß etwas Bedeutsames passierte.“

Tom Robbins: Buntspecht (1980). Rowohlt, 1995.

Tom Robbins, Jahrgang 1932, ist der Gottvater der Metapher, der König der ungekrönten Vergleiche, der Lehrmeister der Phantasie, der Schöpfer der Wortschöpfung, der Erstplatzierte der ersten Sätze, der Erfinder der Kreativitätstheorie. Die wilden Romane des US-Amerikaners sind Sex, Philosophie, Lebensfreude. Unterhaltung, Religion, Politik. Und immer Inspiration für alle, die schreiben. Er ist der Maßstab der Erzählkunst. Er ist Literatur. Punkt. Hatten wir schon mal, macht aber nix. Punkt.

Nicks Kick

„Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.“

Nick Hornby: Fever Pitch – die Geschichte eines Fans (1992). KiWi, 2000.

Nick Hornby, Jahrgang 1957, schreibt über Fußball, Pop und Frauen. Also über die wichtigsten männlichen Lebensinhalte. Kerle lesen zwar in der Regel keine Romane, aber Hornbys Taktik geht trotzdem auf. Mit seinem Debüt „Fever Pitch“ hat er nicht nur das Ballfieber-Buch schlechthin vorgelegt (schenkt es bloß nicht euren Freundinnen, Jungs, sie werden euch die Rote Karte zeigen). Auch der erste Satz ist Champions League. Er strotzt vor dem, worauf der populäre Brite sein gesamtes Werk begründet: Leidenschaft – egal ob für Fußball, Frauen, Familie oder Musik. Vorwerfen kann man Hornby höchstens eines: Er setzt auf den falschen Verein. Aber man kann nicht alles haben.

Uschmanns Männer

„Tja, sagt unser Vermieter und sitzt auf dem Bierkasten in der Ecke wie ein Teilnehmer an einer Referatsgruppe, der zur Gruppenarbeit aber auch gar nichts beizutragen hat.“

Oliver Uschmann: Hartmut und ich (2005). Fischer, 2008.

Oliver Uschmann, Jahrgang 1977,  ist ein wortgewandter Vielschreiber. Und ein Verfechter der klaren, genauen Sprache. Seine zeitgenössische Männer-WG-Romanreihe „Hartmut und ich“ strotzt vor skurrilen Pointen und subversivem Humor. Szenisch, fast filmisch, schleudert er den Leser direkt in immer neue Verwicklungen, wie im exemplarischen Beispielsatz oben. Was Hartmut, der unverbesserliche Weltverbesserer, und Ich, also der Ich-Erzähler, in den mittlerweile fünf Büchern erleben und erleiden (Tipp: Murp!), ist allerfeinste Realsatire. Post-Pop, wie der Münsterländer sagt, der auch ein Faible für Aphorismen und Ratgeber-Exkurse hat („Sei unperfekt – die hohe Kunst der Unvollkommenheit“). Mit seinem aktuellen Schmöker Nicht weit vom Stamm (Script5) drängt der erfahrene Musikjournalist („Visions“) und Dozent auch in den Jugendbuchmarkt. Tipps zum Schreiben hat mir der selbsternannte Wortguru einmal in einem Interview für musicsupporter.de gegeben. Hier.

Der Fänger im ersten Satz

„Falls Sie wirklich meine Geschichte hören wollen, so möchten Sie wahrscheinlich vor allem wissen, wo ich geboren wurde und wie ich meine verflixte Kindheit verbrachte und was meine Eltern taten, bevor sie mit mir beschäftigt waren, und was es sonst noch an David-Copperfield-Zeug zu erzählen gäbe, aber ich habe keine Lust, das alles zu erzählen.“

J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen (1951). Rowohlt, 1994.

J. D. Salinger, 1919 bis 2010, gab gerne Rätsel auf. Um seine Person, um sein Leben, um seine Figuren. So beginnt der Roman, der dem US-Amerikaner zu Weltruhm verhalf, ebenfalls mit vielen Fragen: Wer ist der freche Lümmel, der den Leser so dreist anquatscht, wem erzählt er seine Geschichte und warum bestimmte Sachen nicht? Fakt ist: Mit dem „Fänger im Rogger“ fängt Salinger alle ein. Die saloppe Stimme des Ich-Erzählers war nicht nur wegweisend für die spätere (Pop-)Literatur. Der auffällige Sprachduktus provozierte auch Kritik: Die Originalausgabe von 1951 soll 255 Mal den Ausdruck „goddam“ und 44 Mal „Fuck“ enthalten. Goddam!

Claudius‘ kaiserliche Eröffnung

„An dem Tag, an dem ich vierzig wurde, wachte ich, weil ich hineingefeiert hatte, mit einem Kater auf, trank, als Gegengift, eine halbe Flasche Wasser und vier Tassen starken, schwarzen Kaffee, zog einen grauen Sommeranzug, aber keine Strümpfe an, krempelte die Hosen hoch, fuhr mit dem Rad zur Arbeit, beschimpfte unterwegs ein paar Autofahrer, die den Radweg blockierten, fing auf der ersten Konferenz des Tages einen Streit mit meinem Vorgesetzten an, machte später, als der Personalchef mit einer Flasche Champagner kam, die ich, so sein Vorschlag, abends trinken sollte, ein paar Scherze auf seine Kosten und öffnete den Champagner gleich, ging mittags essen mit Kollegen, die ich Jungs nannte, lachte über ihre Scherze, die auf meine Kosten gingen, schaute auf dem Rückweg, weil es Sommer war, den kurzen Sommerkleidern hinterher, legte meine Füße auf den Schreibtisch und blieb, weil es soviel zu tun gab und die Arbeit eigentlich ein Vergnügen war, viel zu lange im Büro, legte mich abends aufs Sofa und hörte sehr laute Soulmusik, sagte allen, die anriefen und mir gratulierten, es gehe mir gut, trank einen kleinen Whisky und küßte meine Frau und sagte zu ihr: Ich habe ein gutes Leben.“

Claudius Seidl: Schöne junge Welt – warum wir nicht mehr älter werden (2005). Goldmann, 2005.

Claudius Seidl, Feuilletonist und Feingeist, legt in seinem nun auch schon nicht mehr ganz so jungen Forever-Young-Essay einen Eröffnungssatz hin, der, stilistisch einwandfrei, nicht nur als Türöffner zur Gefühlswelt des Neu-Vierzigers funktioniert, sondern der auch, weil es der geborene Würzburger, langjährige SZ- und FAZ-Redakteur und Filmkenner formidabel versteht, wesentliche Details seines lustvollen Lebens hineinzupacken, spannend zu lesen ist und neugierig macht auf das, was auf den folgenden 178 Seiten geschrieben steht, welches wiederum, da können Häppchenleser ganz beruhigt sein, mitunter in kürzeren Sätzen das ausdrückt, worum es hier im Kern geht: um das gute Leben.

Der Wolf im Haas-Pelz

„Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt, wenn du einmal stirbst, muss man das Maul extra erschlagen.“

Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott (2009). Hoffmann und Campe, 2009.

Wolf Haas, Jahrgang 1960, ist ein Meister des kreativen Erzählens, und ob du es glaubst oder nicht, aber der Österreicher hat einen ganz eigenen Stil gefunden. Leser-Duzer Hilfsausdruck. Berühmt gemacht haben Haas seine Brenner-Krimis, deren berühmter erster Satz so berühmt ist, dass ihn ein jeder Krimifreund auswendig dahersagen kann.

Als zum siebten Mal schon wieder was passiert ist, schenkt er uns eine neue Eröffnung (siehe oben). Und jetzt pass auf, die hat es in sich, weil das Plappermaul von Erzähler ja eigentlich im sechsten Band gestorben ist. Irgendwie dann aber doch nicht, wie sich in „Der Brenner und der liebe Gott“ herausstellt. Und im Interview, das ich einmal mit ebenjenem Erzähler führen durfte, machte er ebenfalls einen kreuzfidelen Eindruck. Überschäumend Hilfsausdruck. Über den Haas hatte er auch was zu berichten: Der sei, ob du es glaubst oder nicht, „ein blasses Bürscherl, das viel vor dem Computer sitzt. Und ein Interview nach dem anderen, das kann auch nicht gesund sein. Ich sage, so ein junger Mensch sollte auch einmal hinaus gehen, Sport, Mädchen, alles. Aber bitte, das muss er  selber wissen.“

Die Chatwin-win-Situation

„Bruce ist ein Hundename in England (nicht in Australien) und war auch der Familienname unserer schottischen Cousins.“

Bruce Chatwin: Der Traum des Ruhelosen (Texte aus dem Nachlass, 1996), Fischer, 1998.

Bruce Chatwin, 1940 bis 1989, war ein Mann mit Humor. Ein Mann mit Hundename mit Humor. Aber in der Hammereröffnung des Briten steckt noch mehr: Wer drei Länder in einem Satz unterbringt, noch dazu in einem ersten Satz, der nicht langweilt, sondern die Mundwinkel des Lesers nach oben zieht, der muss ein geistiger Überflieger sein. Ein geistiger Überflieger mit Reiselust (ohne Bonusmeilen). Und genau das war Chatwin: einer der besten Reiseschriftsteller unserer Zeit. Seine Texte sind Reportagen, Autobiographien, Essays. Vor allem aber Zeugnisse einer Zeit, in der das Herumreisen noch Abenteuer war statt All-inclusive.

Der Kniff mit Biff

„Ihr glaubt, ihr wisst, wie die Geschichte endet, aber das stimmt nicht.“

Christopher Moore: Die Bibel nach Biff (2002). Goldmann, 2002.

Christopher Moore, Jahrgang 1957, spricht den Leser gleich mal direkt an. Es gibt Theoretiker, die sagen, dass sollte man besser bleiben lassen. Ich mag das. In einem seiner witzigsten Bücher ist es, genauer gesagt, nicht der humorbetankte US-Autor, der den Leser im Plauderton anquatscht, sondern Levi. Levi, den man Biff nennt, erzählt forsch und frei einfach drauflos. Und zwar nicht irgendeine Geschichte. Sondern die von den wilden Jugendjahren von Jesus. Biff muss es wissen, denn er war dabei: Er war der beste Kumpel von Jesus. Steile Idee, steile Eröffnung.