Ich liebe erste Sätze, denn sie können nicht lügen. Selbst wenn sie eine Lüge verbreiten, verrät das Wie ihren Wesenskern.
Bernhard Blöchl, der Betreiber des Museums der schönen Sätze, über den Zauber hübscher Wörterminiaturen
Ein schlechter erster Satz ist wie ein luschiger Händedruck. Keine Lust auf mehr, und tschüss! Nichts ist spannender, folgenschwerer und schwieriger als die ersten Wörter einer Geschichte. Im besten Fall spiegelt sich darin alles wider, das große Ganze, Sound und Haltung des Erzählers. Im schlechtesten Fall zeigt der Autor, wie gewöhnlich, schlampig oder uninspiriert er seine Story aufzieht. Natürlich entscheiden darüber nicht ausschließlich die ersten Wörter. Aber sie erledigen nun mal den Job des Türöffners, und vor diesem Job habe ich großen Respekt.
Ich weiß nicht genau, wann das anfing. Für starke erste Sätze hatte ich schon eine Schwäche, als ich im Studium Axel Hacke nacheiferte und unbedingt Journalist werden wollte. Ich erinnere mich daran, wie ich Romane allein nach dem ersten Satz gekauft oder liegengelassen, Artikel danach verschlungen oder weggeblättert habe. Ich liebe erste Sätze, denn sie können nicht lügen. Selbst wenn sie eine Lüge verbreiten, verrät das Wie ihren Wesenskern. Gibt Einblick ins Autorenherz. Irgendwann entdeckte ich die Meister der Disziplin, und aus der Begeisterung wurde ein Fetisch. Danke, Wolf Haas („Jetzt ist schon wieder was passiert.“), danke, Heinrich Steinfest („Ihre Beine waren zu dick.“), danke, Tom Robbins („Es heißt, Tanuki hätte seinen Hodensack als Fallschirm benutzt, als er vom Himmel fiel.“). Danke, Boyle, Hornby, Nabokov, Hesse. Danke, Kafka, Austen, und wie sie alle heißen. Seit ich weiß, welche Wucht vor allem ein erster Satz haben kann, bin ich süchtig nach Sätzen.
Ich verfolge damit kein Ziel, es ist vielmehr ein sprachlicher Work-out sowie ein Inspirationsquell für mich und alle anderen, die Sprache lieben
Seit Sommer 2011 sammle und kommentiere ich sie auf Lieblingssaetze.de. Gnadenlos subjektiv, mitunter gönne ich mir längere Pausen, nie fehlt das Schwärmen. Aus der Uridee, befeuert durch die Neugier des Bloggens, ist ein Museum der schönen Sätze gewachsen, das auch Songzeilen und Fundstücken Platz bietet und die Favoriten der Leser präsentiert. Ich verfolge damit kein Ziel, es ist vielmehr ein sprachlicher Work-out sowie ein Inspirationsquell für mich und alle anderen, die Sprache lieben, das Motto: „Zur Sache, Sätzchen!“ Autorenkollegen schreiben mir, wie gerne sie sich hier anregen lassen, Journalisten holen sich Impulse auf der zugehörigen Facebook-Seite oder Twitter, Zeitschriften wie das „Bücher-Magazin“ oder die „Federwelt“ empfehlen das Museum weiter. Oliver Uschmann, ein befreundeter Musikjournalist und Romanautor („Hartmut und ich“-Reihe), übertreibt schamlos, wenn er mir öffentlich schmeichelt: „Einer der besten und unterhaltsamsten Blogs des Landes.“
Aber zurück zum Wesenskern. Was macht nun einen guten ersten Satz aus? Die Sammlung zeigt: Es gibt solche und solche gute erste Sätze. Hübsche Miniaturen, die auf unterschiedliche Weise faszinieren. Die einen punkten durch Skurrilität: „Harold glaubte, nach Mutters Tod erbe er die Villa und erhänge sich zweimal die Woche in der Vorhalle.” (Einzlkind: „Harold“). Andere durch dramatische Schönheit: „Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.” (Nick Hornby: „Fever Pitch“). Wieder andere durch phantasievollen Witz: „Während die meisten jungen Schotten seines Alters Röcke lüpften, Furchen pflügten und die Saat aussäten, stellte Mungo Park dem Emir von Ludamar, Al-Hadsch’ Ali Ibn Fatoudi, seine bloßen Hinterbacken zur Schau.“ (T.C. Boyle: „Wassermusik“).
Es gibt Eröffnungen, die erstrecken sich über scheinbar viel zu viele Zeilen, und trotzdem bleibt man gebannt, weil der Rhythmus exzellent gesetzt, jedes Wort wichtig, und überhaupt alles so formvollendet schön ist, dass man gerne vor Neid erblasst (Claudius Seidl, Hermann Hesse, David Lodge). Andere begnügen sich mit einem einzigen Wort, so zum Beispiel Heinrich Steinfest, der Schelm, der seinen Roman „Der Allesforscher“ tatsächlich mit „Oha!“ eröffnet. Hammer! Eines haben alle Sätze gemein: Sie stechen heraus, machen unbedingt neugierig, sind Einladungen zum Weiterlesen, die nur ausschlagen kann, wem Sprache nichts bedeutet.
Deshalb bin ich fest davon überzeugt: Alle Texter sollten nach der Kunst des ersten Satzes streben – Songwriter, Journalisten, Schriftsteller sowieso. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass sich Journalisten im Alltagsdruck nicht den Luxus leisten können, stundenlang an den Eröffnungsworten zu feilen. Aber die Mühe lohnt sich, und auch journalistische Texte lassen sich mit einem Oha-Erlebnis einleiten, mit einer wassermusikalischen Melodie, mit einer beindicken Frechheit. Gerade in Zeiten, in denen die Leser mehr denn je am Drücker sind, erscheint mir das besonders wichtig. Denn lahmt ein Text gleich zu Beginn, wird er weggeklickt. Fängt er dagegen magisch an, sind die meisten verzaubert und bleiben dran. Versprochen.
Dieser Text sowie meine Würdigungen der besten Sätze des Jahres 2014 sind im Heft „Journalisten Werkstatt – Wie Sätze wirken II“ von Peter Linden erschienen. Hier kann man die Publikationen im Print- oder PDF-Format erwerben.


Ein seitengroßes Interview über die Magie von ersten Sätzen und die Entstehung des Museums ist im Juli 2016 in der Freien Presse Chemnitz erschienen.
